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Artikel in der Augsburger Allgemeine: Woran das System für kranke Straftäter krankt

Woran das System für kranke Straftäter krankt 

VON MORITZ MAIER
- 14. SEPTEMBER 2023
 

Jonas Ehrlich leidet unter einer Psychose, als er einen Mann angreift. Er landet hinter Klinikmauern. Heute klagt er über ein System, das ihn Jahre seines Lebens gekostet hat.

 

Er steht stoisch und ernst vor der meterhohen grauen Betonmauer und dem verschlossenen Eisentor. Dort, wo er Jahre seines Lebens verbrachte, die sich für ihn wie Gefangenschaft anfühlten. In einem mehrstündigen Gespräch erzählt er von seinen Erlebnissen. Nachprüfen lassen sich diese nur schwer, Behörden machen zu Einzelfällen keine Angaben. Doch seine Geschichte steht exemplarisch für die Fehler im System. Der Ort, an dem er sich seiner Freiheit beraubt fühlte, ist kein Gefängnis, sondern eine Klinik. Eine für Maßregelvollzug. Straftäter, die psychisch krank oder suchtkrank sind, werden hier von der Gesellschaft abgeschirmt, um geheilt zu werden. Und das auf teils unmenschliche Art, sagt die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter. Das System des Maßregelvollzugs nimmt Kranke auf. Doch es krankt selbst. 

 

Er, das ist Jonas Ehrlich, heute 28 Jahre. Ehrlich steht vor der Maßregelvollzugsklinik Kaufbeuren, auch Forensik oder psychiatrische Abteilung genannt. Ab Sommer 2017 verbrachte Ehrlich gut fünf Jahre im Vollzug, erzählt er vor der Klinik. Erst in U-Haft, dann längere Zeit in der „Geschlossenen“, also der geschlossenen psychiatrischen Abteilung. Ehrlich litt unter einer Schizophrenie. Während einer Psychose – also dem zwischenzeitlichen Verlust des Bezugs zur Realität – griff er einen anderen Menschen an, beging Körperverletzung, erzählt der gebürtige Kemptener. Vor Gericht wurde er wegen seiner Erkrankung für schuldunfähig erklärt und zur Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung verurteilt. Auf unbestimmte Zeit.

 

Ehrlichs Ausführungen beschreiben ein wachsendes Problem. Derzeit befinden sich über 3100 Menschen im bayerischen Maßregelvollzug, teilt das bayerische Sozialministerium auf Nachfrage mit. Das entspricht etwa einem Viertel aller Gefangenen im Freistaat, Tendenz steigend. Obwohl es sich um kranke Straftäterinnen und Straftäter handelt, betreffen etliche Fehler im System Maßregelvollzug die gesamte Gesellschaft, wissen Fachleute. Kliniken und Angestellte sind überlastet, Patientinnen und Patienten werden somit schlechter geheilt, schlechter resozialisiert.

 

Durch Schizophrenie den Bezug zur Realität verloren

Jonas Ehrlich merkte, schon bevor er hinter den Klinikmauern landete, dass etwas mit ihm nicht stimmt: "Ich steckte in einer sehr unguten Beziehung fest, aus der auch ein Kind entstand, da kamen schleichend immer mehr psychische Probleme", erzählt er. Er wechselte häufig den Job, zog von zu Hause aus, lebte einen Sommer über in einem Zelt im Wald. "Da verlor ich dann immer mehr den Bezug zur Realität, ich habe Dinge gesehen, die nicht da waren, und dachte, ich könne die Gedanken anderer lesen", sagt er in ruhigem Ton. Als auch seine Mutter die Wahnvorstellungen mitbekam, rief sie die Polizei, der Sohn wurde ins Bezirkskrankenhaus (BKH) Kempten gebracht. Dort griff er einen anderen Patienten an, schlug auf diesen ein. "Ich stand unter einer starken Psychose, unter normalen Umständen hätte ich das niemals gemacht", sagt Ehrlich heute. Er beschreibt, dass diesem Angriff Isolationshaft und Fixierung ans Bett folgten, in dem er sich nicht zur Seite oder auf den Bauch drehen konnte. Vor Gericht stufte ihn eine Gutachterin als Gefahr für die Allgemeinheit ein. Dem folgte das Urteil der Schuldunfähigkeit und die Verlegung in die Forensik Kaufbeuren. Heute steht er vor dem Tor und sagt: "Als das alles passierte, fühlte es sich an wie ein Film, der an mir vorbeiläuft."

 

Herrschen in Krankenhäusern menschenunwürdige Zustände?

Ehrlichs Unterbringung ist auf unbestimmte Zeit ausgelegt, wie es im Maßregelvollzug häufig der Fall ist. Denn: Wann ein Mensch wieder gesund ist, kann schlecht per Strafmaß festgelegt werden. Was in der Theorie sinnvoll klingt, ist in der Praxis hoch umstritten. "Dass die verurteilten Menschen nicht einmal wissen, wann sie wieder hinaus dürfen, ist ein Problem", sagt Christina Müller-Ehlers, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe (BAG-S). Der Fachverband will unter anderem die Situation im Maßregelvollzug verbessern.

 

In Kaufbeuren angekommen landet Jonas im sogenannten "Krisenzimmer", wie er sagt. In solchen oft nur mit einem Bett ausgestatteten Räumen werden gewalttätig gewordene Patientinnen und Patienten oft in den ersten Tagen untergebracht, um ihr Aggressionspotenzial und die richtige Medikation abschätzen zu können. Der 28-Jährige sagt, dass er dort aber nicht nur einige Tage, sondern viele Wochen gewesen sei. "Da war ich vollkommen isoliert, die Medikamente anfangs so stark, dass mir die Spucke aus dem Mund gelaufen ist." Ehrlichs Aussagen lassen sich nicht überprüfen, da Kliniken keine Details über einzelne Patientinnen und Patienten veröffentlichen. Doch die Klinikleitung in Kaufbeuren kennt die Vorwürfe. Ehrlich berichtet, dass er aufgrund seiner anhaltenden Krankheit auch dort fixiert wurde. "Es war die Hölle auf Erden. Ich musste in eine Schale urinieren, die am Bett angebracht wurde. Ich wollte nur noch sterben." Essen wurde ihm durch eine Luke in der verschlossenen Tür gereicht, ersten Kontakt zu anderen Menschen habe er erst nach Wochen gehabt.

 

Patienten werden fixiert und isoliert

Die Isolations- und Fixierungsmaßnahmen in forensischen Kliniken rufen viel Kritik hervor. "Solche Maßnahmen dürfen nur in wirklich gut begründeten Einzelfällen ergriffen werden; die Menschen müssen dabei durchgehend soziale Kontakte haben", sagt Müller-Ehlers von der BAG-S. Für solche "Absonderungen" wird eine richterliche Genehmigung benötigt. In der Klinik für forensische Psychiatrie und Psychotherapie am BKH Kaufbeuren sei das Ultima Ratio, teilt der Kliniksprecher auf Nachfrage mit: "Diese Maßnahmen werden grundsätzlich auf das absolut notwendige Maß beschränkt." Sie würden nur dann angewandt, "wenn alle anderen Maßnahmen eine Gefährdungssituation für den Patienten selbst, für Mitpatienten und Personal nicht beseitigt werden konnten", heißt es vom BKH.

 

Wie viele Wochen Ehrlich in Isolation verbrachte, weiß er nicht. Ohne Handy und Uhr, in labilem gesundheitlichen Zustand und unter hohem medikamentösen Einfluss lasse sich das schwer sagen. Mehrwöchige Zwangsaufenthalte sind allerdings keine Ausnahme, heißt es bei der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter. Diese unabhängige Institution wurde 2008 vom Bundesjustizministerium geschaffen und geht auf die Vereinten Nationen zurück. Sie nimmt unter anderem den deutschen Maßregelvollzug regelmäßig unter die Lupe. Im Jahresbericht 2022 ist nachzulesen, dass in mehreren Kliniken Menschen mehr als 15 Tage am Stück in Absonderung untergebracht wurden. Weiter heißt es, in zwölf überprüften Kliniken erfüllten die Krisenzimmer "nicht die Mindeststandards für eine menschenwürdige Unterbringung". Demnach gibt es in vielen Zimmern lediglich eine am Boden liegende Matratze, kein Bett, keinen Stuhl.

Neben Fragen der Menschenwürdigkeit bezweifeln Expertinnen und Experten, ob solche mehrwöchigen Aufenthalte einen Heilungsprozess überhaupt ermöglichen. "Wenn ich Menschen 23 Stunden pro Tag einsperre, macht sie das nicht gesund", sagt Müller-Ehlers.

 

Kliniken deutschlandweit sind völlig überlastet

Stellt sich die Frage, was der Maßregelvollzug überhaupt bezweckt. Im Strafvollzug steht die Resozialisierung der Gefangenen im Vordergrund. Beim Maßregelvollzug scheint das nicht der Fall zu sein. So ist im bayerischen Maßregelvollzugsgesetz zu lesen: "Ziel der Unterbringung ist, die Allgemeinheit vor der Begehung weiterer Straftaten zu schützen." Erst im Weiteren wird formuliert, dass die Menschen nach Möglichkeit auch geheilt werden sollen.

Nach seiner Zeit in Isolation kommt Jonas Ehrlich in ein Zimmer mit mehreren anderen Patienten. Laut Sozialministerium gibt es in bayerischen Maßregelvollzugseinrichtungen mehr Straftäter als Planbetten. Zwar sei diese Zahl nicht direkt zu vergleichen, betont das Ministerium auf Nachfrage. Im Gespräch mit den Verantwortlichen in den Kliniken selbst wird die Notlage aber schnell deutlich. "Wie sämtliche Maßregelvollzugseinrichtungen in Deutschland ist auch die Kaufbeurer Forensische Klinik überbelegt", heißt es dazu vom BKH. Das sei für Personal sowie Patientinnen und Patienten untragbar, sagt auch Christina Müller-Ehlers von der BAG-S. "Wenn bis zu fünf Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen rund um die Uhr auf engsten Raum miteinander sind, ist es klar, dass da auch mal jemand emotionale Ausbrüche hat."

Der Maßregelvollzug als unverhältnismäßiges System?

Ehrlich war froh über den Kontakt zu anderen Patienten. Er erzählt, dass er seitdem keinerlei Psychosen mehr habe und sich gut fühle. Trotzdem ist er nach wie vor wütend, wenn er vor dem BKH steht und die Mauer hochblickt. Das liege vor allem daran, so sein Vorwurf, dass er unnötig lange dort bleiben musste. Gesetzlich ist vorgesehen, dass alle sechs Monate ein psychologisches Gutachten erfolgen muss, das bestimmt, ob ein Mensch gesund genug ist, um wieder in Freiheit zu leben. In seinem Fall sei dieses Gutachten erst viele Monate verspätet erstellt worden, sein Aufenthalt habe sich dadurch signifikant verlängert, beklagt er. Das BKH Kaufbeuren bestätigt, dass solche Vorgänge keine Einzelfälle sind: "Aufgrund des bekannten Mangels an Sachverständigen und deren massiven Überlastung kann es zu zum Teil deutlichen Verzögerungen kommen. Hierauf haben wir jedoch keinerlei Einfluss."

Das weiß auch Jonas Ehrlich. Er klagt nicht einzelne Menschen oder die Kaufbeurer Klinik an. Er sieht den Fehler in einem unverhältnismäßigen System. "Hätte ich die Tat statt aus Krankheit aus Bösartigkeit getan, wäre ich als Ersttäter mit Sozialstunden davon gekommen; so aber hat es mich Jahre meines Lebens gekostet – obwohl ich schon viel früher wieder gesund war." Seit November 2021 ist Ehrlich aufgrund eines Genesungsgutachtens wieder frei, muss aber regelmäßig für seine Medikation ans BKH.

 

Der Gesetzgeber will beim Maßregelvollzug anpacken

Den Personalmangel und die Überlastung sehen auch die politischen Verantwortlichen. Zum 1. Oktober tritt eine Reform des Maßregelvollzugs in Kraft. Gerade Straftäter mit Drogenproblemen sollen dann häufiger in Gefängnissen statt im Maßregelvollzug behandelt werden. Ob dieser Schritt die vielen Probleme löst, bezweifeln Fachleute.

Jonas Ehrlich steht trotz allem wieder im Leben, hat einen Job, eine Wohnung in Kaufbeuren, kann sein mittlerweile sechsjähriges Kind endlich aufwachsen sehen, sagt er. Seine früheren Freunde habe er nicht mehr, dafür neue. "Mir geht es mittlerweile gut", sagt er und blickt auf die Mauern, hinter denen er jahrelang eingesperrt war. Aber er ist die Ausnahme, ist er überzeugt: "Viele kommen nach der Entlassung direkt wieder rein. Und viele bleiben einfach für immer drin."

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